Pfarrer Dr. Beyhl: Andacht zur Reformation (Text)

Andacht Vertreterversammlung des Verbandes 2021
30. Oktober 2021 10 Uhr Puschendorf

I. In der Welt habt ihr Angst

Jesus sagt: „In der Welt habt ihr Angst“ – und er hat verdammt recht damit. Denn in der Welt haben wir Angst. Jeder. Keiner, der sich ihr entziehen kann.
Als Kind habe ich Angst, allein im Dunkeln zu schlafen, in den Keller zu gehen oder nachts durch den Wald zu spazieren.
Als Teenager habe ich Angst, der Außenseiter in der Klasse zu sein, Angst in meiner Suche nach Liebe enttäuscht zu werden.
Angst keine gescheite Ausbildung zu bekommen. Angst den Anforderungen, die an mich gestellt werden, nicht gerecht werden zu können.
Als Erwachsener habe ich Angst, dass ich versage, im Beruf, in der Familie.
Ich ängstige mich um meine Kinder, um meine Eltern und irgendwann komme ich selbst in das Alter, in dem man sich Gedanken macht um das eigene Ende und mich überkommt die Angst vor dem Tod – nicht unbedingt vor dem Tod an sich, mehr über die Art des Sterbens.
Wir haben Angst vor dem Neuen und Unberechenbaren im Leben und versuchen deshalb krampfhaft dafür zu sorgen, dass alles so bleibt, wie es ist.

Der Baseler Bischof Kurt Koch schreibt deshalb von einem Zeitalter der Angst, in dem wir leben.
Und der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer nennt die heranwachsende Generation die Generation Angst, weil sie in allem, was sie tut, von Angst bestimmt ist.
Er bezieht sich damit vor allem auf soziale Ängste: Angst vor festen Bindungen, Angst vor Nähe, Angst, sich festzulegen.
Und ich glaube, das ist die eigentliche Angst, die uns Menschen lähmt und handlungs- bzw. lebensunfähig macht: die Bindungsangst, die Beziehungsangst, sich fest an jemanden oder etwas zu binden.
Und der gefährliche Ursprung jeglicher Beziehungsangst liegt darin, dass ich befürchte, den Erwartungen, die an mich gestellt werden oder ich man mich selbst stelle, nicht gerecht werden zu können.
Perfekt möchte man sein, weil die anderen das von einem erwarten. Und je höher meine Ansprüche oder die der anderen sind, desto größer wird die Gefahr, wieder zu scheitern.
Und je öfter ich scheitere, desto größer werden meine Ansprüche, desto größer mein Scheitern, desto größer meine Angst vor dem Scheitern usw.

II. Beziehungsangst – Angst vor Gott?

Das ist auch der Grund, warum viele Menschen mit Gott so wenig anfangen können. Weil sie bewusst oder unbewusst Angst haben vor Gott, davor, bei ihm durchzufallen, wie man es in der Welt immer wieder gewöhnt ist.
Wenn Menschen nur das Wort „Gott“ hören, überfällt sie eine panische Angst und sie flüchten sich in Sätze wie „Was ich nicht sehen kann, kann ich auch nicht glauben“.
Oder „Ich glaube nicht an den Gott, den die Kirche predigt. Ich glaube an das Universum, an eine göttliche Macht.“
Auch wenn über 80 % der Deutschen an ein höheres Wesen glauben, ist es nicht einmal die Hälfte davon, die an den christlichen Gott der Bibel glauben und den die Kirche verkündigt.
Warum? Der Gott, den die Bibel schildert, ist ein persönlicher Gott. Der mit den Menschen, mit dir und mir eine Beziehung haben will.
Und zwar nicht nur solch eine, in der man aneinander vorbeiredet oder unverbindlich aneinander vorbei lebt.
Er will eine echte Beziehung. Ganz und Gar. Wie ich es eben z.B. auch von meiner Ehefrau erwarte – eine echte Beziehung. Mit mir. Ganz.
Und genau darin liegt das Problem: wenn Gott so ein persönlicher Gott ist, der auf Beziehung steht, dann habe ich auch hier wieder Angst den Ansprüchen, die jetzt auch noch Gott an solch eine Beziehung stellt, nicht gerecht zu werden.
Ich verbinde mit solch einer persönlichen Beziehung Taten, die ich vollbringen muss. Ich habe Angst zu scheitern – so wie ich in meinem Leben immer wieder Scheitern erlebe – im Beruf, in der Partnerschaft, im Freundeskreis.
Und wenn dann auch noch Gott mein Gegenüber ist – ich mein Gott, der ist doch ein wenig höher als ich – dann wird meine Angst vor dem Scheitern dieser Beziehung noch größer.

Das ist übrigens nicht nur bei den nicht ganz so frommen oder Ungläubigen so. Das gibt es auch und gerade unter den Christen. Diese Angst vor dem Scheitern.
Dann tauscht man die lebendige Beziehung, in der auch mal die Fetzen fliegen dürfen, ein gegen ein belangloses Nebenher oder quält sich mit religiösen Vorschriften, in der Hoffnung, dadurch wieder etwas gut zu machen von dem, was man verbockt hat.
Man durchforstet sein Leben nach Dingen, die Gott vielleicht nicht gefallen könnten und bringt sich so um so viel Leben.
Man lebt gar nicht mehr richtig aus Angst, ich könnte gegen eines von Gottes Geboten verstoßen. So ging es zumindest auch Martin Luther vor knapp 500 Jahren am Vorabend der Reformation.
Und dann ist doch klar, dass ich keine Zeit mehr habe, um mit Gott eine Beziehung zu führen, oder?
Oder Freude zu empfinden am Glauben, an einem Leben mit Gott, wenn sich hinter diesem Wort so viel „Du darfst nicht, du sollst nicht, unterstehe dich“ steht.
Gerade in den Gesprächen zwischen Jesus und den Pharisäern wird das immer wieder deutlich: die Pharisäer, die Jesus immer wieder vorführt, sind an sich gar keine schlechte Menschen.
Aber sie haben so sehr ihre religiösen Vorschriften im Kopf, mit denen man Gott gefallen könnte oder müsste und vergessen dabei, dass Gott all das religiöse Beiwerk zunächst einmal wurscht ist.

III. Zachäus feiert Reformation

Der Evangelist Lukas erzählt dazu eine wunderbare Geschichte (Lukas 19, 1-10):

Jesus zog mit seinen Jüngern durch Jericho. Dort lebte ein sehr reicher Mann namens Zachäus, der oberste Zolleinnehmer. Zachäus wollte Jesus unbedingt sehen; aber er war sehr klein, und die Menschenmenge machte ihm keinen Platz.
Da rannte er ein Stück voraus und kletterte auf einen Maulbeerbaum, der am Weg stand. Von hier aus konnte er alles überblicken.
Als Jesus dort vorbeikam, entdeckte er ihn. „Zachäus, komm schnell herab!“, rief Jesus. „Ich möchte heute dein Gast sein!“
Eilig stieg Zachäus vom Baum herunter und nahm Jesus voller Freude mit in sein Haus. Die anderen Leute empörten sich über Jesus: „Wie kann er das nur tun? Er lädt sich bei einem Gauner und Betrüger ein!“

Dieser Zachäus steht für mich für die Sehnsucht des Menschen. Für die Sehnsucht nach Angenommen sein. Sehnsucht nach Sinn. Sehnsucht nach Zufriedenheit. Sehnsucht danach, einmal so zu sein, wie man ist, ohne dass andere sagen, was ich dafür zu tun habe. All das, was ihm fehlte.
Vielleicht war er ja auch selbst schuld daran, dass er einsam und nicht angesehen war. Vielleicht sah es in ihm selbstverschuldet aus wie in meiner Rumpelkammer.
Dass Zachäus klein von Wuchs war, das hat für mich nicht nur mit der körperlichen Größe zu tun. Ich glaube er war klein, weil er sich selbst klein machte und von anderen klein gemacht wurde.
Und doch schlummerte in ihm diese Sehnsucht nach Mehr. Diese Sehnsucht, diese unglaubliche Sehnsucht, die ihn auf den Maulbeerbaum steigen ließ, um Jesus zu sehen.
Dieser Maulbeerbaum hatte nicht nur den Vorteil, dass er etwas sehen konnte, sondern dass er das ganze Geschehen aus einer gewissen Distanz verfolgen konnte.
Aus der Distanz den Messias beschnuppern wollte Zachäus. Wollte unverbindlich mal schauen, was dieser Jesus so drauf hat. Auch er hatte Angst, sich ihm zu nähern und stieg deshalb auf einen hohen Baum.
Die Menschenmenge, die ihn dazu zwang, das ganze aus der Distanz zu verfolgen, sie steht nicht nur für die Menschen, die ihn ausgrenzten, sondern auch für all die Angst, für die vielen Ausreden, für all das, was ihn bisher hinderte, ein Leben mit Gott zu führen. Diese Menge ließ ihn auf den hohen Baum steigen.
Auf solch einem hohen Baum verkriechen wir uns ja auch oft.
Auf einen Baum der Enttäuschung – so oft man zu Gott gebetet, ihn angefleht – und nichts ist passiert. Die große Rettungsaktion blieb aus.
Und aus Angst vor weiteren Enttäuschungen – nee du, Gott, bleib für dich und ich bleib für mich. Das ist ja bei Beziehungen ähnlich.
Wenn ich einmal wirklich tief enttäuscht wurde, dann habe ich erst recht Angst, dass ich beim nächsten Mal enttäuscht werde und ziehe mich lieber zurück.
Auf einen Baum der Unwürdigkeit kann ich mich zurückziehen. Schließlich war ich schon lange nicht mehr in der Kirche, die Bibel ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln und in meinem Leben ist eh gar nichts Gold, geschweige denn glänzt etwas.
Ich habe gelogen, betrogen, geschlagen, gemordet, gesoffen, gelästert, bin gescheitert. Mit mir will Gott gar nichts zu tun haben.

Aber Jesus wird sehr schnell verbindlich, wenn es darum geht, den Menschen von seinem Baum der Angst herunterzuholen. Jesus wird verbindlich:
„Ich möchte heute bei dir zu Gast sein. Und mir ist vollkommen wurscht, wie es bei dir drin aussieht. Mir ist vollkommen wurscht, ob deine Seele verkrüppelt ist und dein Herz unaufgeräumt. Denn ich bin ja dazu da, das wieder in Ordnung zu bringen.“
Während die Umstehenden schon wieder versuchen, Zachäus religiös klein zu halten, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, dass er Jesus zu sich einlädt, sagt Jesus zu ihm und allen, die auf solchen Bäumen der Angst sitzen: „Der Menschensohn ist gekommen, Verlorene zu suchen und zu retten.“
Kein Mensch kommt auf die Idee, wenn er krank ist, zu Hause zu bleiben, aus Angst der Arzt würde ihn nicht sehen wollen, weil er krank ist. Da gehe ich doch gerade deshalb hin, um geheilt zu werden.

„Zachäus, als er die Einladung Jesu hörte, stieg eilig von seinem Baum herunter und nahm Jesus voller Freude mit in sein Haus.“
Endlich einer da, der ihm die Angst vor dem Scheitern nahm. Endlich einer, der ihm die Angst vor seiner Vergangenheit nahm.
Endlich einer, der ihm die Angst nahm immer einer sein zu müssen, der er gar nicht ist.
Endlich einer da, der sich nicht scheut in die Unordnung und Unaufgeräumtheit einzukehren.
Jesus sagt nicht zu Zachäus: „Komm, wir gehen jetzt in den Tempel und ich zeige dir, wie man so richtig anbetet, fastet, opfert und religiös sich so verhält.“
Jesus will zu ihm nach Hause, dorthin, wo es unaufgeräumt, unordentlich ist. Dorthin, wo so vieles im Argen liegt.

Ich glaube, als Zachäus mit Jesus feierte war das ein wahres Reformationsfest. So wie es Martin Luther vor knapp 500 Jahren, 1500 Jahre später auch feierte.
Er hat in seinem stillen Kämmerlein ja nicht die Botschaft entdeckt „Trenne dich von deiner katholischen Kirche“, sondern inmitten seiner Angst eben diesen Ruf Jesu vernommen: „Steig herab, ich möchte heute dein Gast sein.“
Dieser Ruf Jesu, das ist der Grund der Reformation. Das ist ein wahrer Grund für ein großes Fest.
Ein Fest, indem es um die Erneuerung meiner Seele, meines ganzen Lebens geht. Ein Fest gegen die Angst. Gegen die Angst des Versagens, gegen die Angst des Scheiterns. Ein Fest des neuen Lebens.
„Zachäus, komm schnell herab!“, rief Jesus. „Ich möchte heute dein Gast sein!“
Schöner kann man Reformation gar nicht ausdrücken.

AMEN

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